Heilung ist jenes Gänseblümchen, das überall blüht und immer wieder blüht. Sie ist das Versprechen der Regenbogengöttin Iris. Sie schmeckt süß und bitter zugleich und ist die frische Bergluft, die alles weit werden lässt. Ein leerer Raum, der gefüllt werden will. Eine Tür, die geöffnet werden möchte. Sie ist die Wanderung ohne Landkarte, ein Weg mit unbekannten Abzweigungen und überraschenden Ausblicken. Heilung ist ein offenes Auge.
Was ist Heilung?
Heilung trägt die Frage in sich, sie ist eine Frage, die beantwortet werden will. Sie ist ungewisses Dazwischen, sie fordert auf und heraus, sie ist eine Brücke zwischen Schmerz und Freiheit. Sie ist die Rückkehr zu einem frei fließenden Fluss, das Erkennen im Spiegel der Regentropfen. Die Wunde kann die Heilung sein. Sie braucht Mut und Vertrauen und schafft Frieden. Sie ist die Rückkehr nach langer Reise. Sie ist Gast und bleibt nie für immer.
Eine große Frage – was ist Heilung?
In heutigen Zeiten versteht die Schulmedizin laut eigener Definition unter Heilung die Wiederherstellung des Ausgangszustandes. Aus dieser Sicht tritt Heilung ein, wenn die Symptome beseitigt sind. Ist dies nicht ein Widerspruch in sich? Ist nicht jede Krankheit eine Aufforderung etwas anders zu machen? Und ist es nicht geradezu fahrlässig, nur mit der Wiederherstellung des Ausgangszustandes beschäftigt zu sein, der eben diese Krankheit herbeigeführt hat? Liegt nicht gerade in der Krankheit bereits der Impuls zur Heilung, wenn man bereit ist hinzusehen, hinzuhören, hinzuspüren?
Heute geht es oft um die Norm - darum, was normal ist. Wer zu weit von der Norm abweicht, ist krank. Und diese Normen sind bekanntlich von den Profit-Interessen einer Pharmaindustrie nicht unbeeinflusst. Aber auch unabhängig von der Profitgier eines Industriezweiges gibt es einen großen Drang, von der Normalität zu sprechen. Wer länger als vorgesehen nach einem Todesfall trauert, hat eine Depression oder Trauerstörung. Wer zu viel Angst hat, hat eine Angststörung. Wer zu zappelig ist, hat ADHS. Da ist ein Symptom, das muss weg. Auf physischer Ebene wird geschnitten und so lange mit chemischen Mitteln manipuliert, bis die Norm (scheinbar) wieder erreicht ist. Kaum jemand kann sich vom Druck der Norm freimachen, die meisten Menschen wollen dazu gehören, wissen darum, wie schwierig es ist, anders zu sein, wollen nicht von den anderen beäugt oder gar ausgegrenzt werden.
Menschen leben heute in einem Daueroptimierungswahn, um ihr Leben auf Idealwerte zu bringen. Smartwatches erklären stündlich, ob man sich genug bewegt hat, wie viel Kalorien man verbrannt hat, wie tief der Schlaf war und was man sonst noch alles so messen kann. In dieser Dauerschleife der Selbstoptimierung entsteht jedoch nicht Gesundheit, wie versprochen wird, sondern Krankheit. Nie so sein zu können, wie man ist, ist Dauerstress.
Heilung finden im Sinne von vollständiger, von ganzer werden, ist ein fragiler Prozess. Einer, der manchmal bedeuten kann stehenzubleiben und manchmal heißt weiterzugehen, der manchmal Annehmen heißt und manchmal zum Kämpfen herausfordert. Manchmal ist weiterleben Heilung, manchmal ist der Tod der Heilung, wenn entscheidende Schritte der Heilung erst beim Überschreiten der Schwelle vollzogen werden können. Menschen um jeden Preis am Leben zu halten, wie es heute häufig passiert, hat mit Heilung wenig zu tun, denn Heilung bedeutet auch, mit dem zu gehen, was ist, und nicht um jeden Preis dagegen anzukämpfen.
Heilung scheint etwas sehr Großes zu sein, unter anderem assoziiert mit den Heilungswundern Jesu. Doch Heilung ist auch etwas ganz Alltägliches, etwas zu dem wir als Mensch jeden Tag aufgerufen werden.
Wir oder uns nahestehende Menschen müssen nicht schwer erkranken, um zu begreifen, was Heilung ist. Heilung kann manchmal ein Blick, ein Lächeln sein – ein stille Begegnung zwischen zwei Menschen, die sich nicht weiter kennen. Für einen Moment die Kruste der Einsamkeit eines anderen aufbrechen, weil man hinsieht. Sie kann eine zarte Geste zu Pflanzen und Tieren sein. Sie kann geschehen, wenn ein Herz sich weitet, wenn eine Hand sich öffnet und gereicht wird. Sie ist dort, wo das Mitgefühl lebt, wo Mut da ist, wo Behutsamkeit und Hingabe sind. Sie kann dort sein, wo das Leben mit Staunen und Ehrfurcht betrachtet wird. Ein Wort kann ebenso heilend sein wie ein Blick oder eine Berührung. Oft braucht es nicht viel, um heilend einander zu begegnen.
Wir leben in einer verwundeten Gesellschaft. Überall klaffen Wunden, sei es durch unverarbeitete Geschichte oder durch ein Verlorensein in einer hochtechnisierten Welt. Es ist die Wunde des Menschseins, zerrissen zwischen Himmel und Erde, zwischen Schwere und Sehnsucht, zwischen Verführung und Aufrichtigkeit.
Inspirierend ist die Metapher des verwundeten Heilers Chiron – jenes Kentauren, der schwer verwundet wurde und unsägliche Qualen litt, der auf der Suche nach Heilung weit reiste, viel über Heilkunst lernte, viele heilen konnte, allerdings nicht sich selbst.
Unsere tiefsten Wunden sind oft zugleich Ursprung besonderer Fähigkeiten, sind Wegweiser zu uns selbst.
Und so hat Heilung immer auch damit zu tun, uns dieser Wunden anzunehmen und uns auf jene Reise zu begeben, zu der uns unser Verwundet-Sein auffordert.
Als Werdende sind wir immer auch Heilende.