Gehirn im Überlebensmodus
Traumatische Erfahrungen sind von Gefühlen Ohnmacht und Todesangst gekennzeichnet. Die Betroffenen haben keinen Ausweg und fühlen sich hilflos. In solchen Situationen wird das Gehirn von Stresshormonen überflutet, der Körper schaltet in einen Flucht- und Kampfmodus. Adrenalin durchflutet den Körper, der Puls rast, der Blutdruck ist hoch. Dies sind heftige physiologische Reaktionen auf ein lebensbedrohliches Ereignis, die dazu dienen, durch Kampf oder Flucht doch noch einer solchen Situation entfliehen zu können.
Wenn es weder die Möglichkeit zu Kampf oder Flucht gibt, kommt es zur Erstarrung, Menschen dissoziieren dann. Das Großhirn wird abgeschaltet. Auf diese Weise wird das Überleben zwar garantiert, aber Fühlen, Denken, Erinnern, Sprache und Handlungsplanung als wesentliche Großhirnfunktionen werden abgeschaltet bzw. massiv blockiert.
Dies führt dazu, dass Menschen je nach Ausprägung der Dissoziation in der traumatischen Situation sich später entweder an nichts mehr oder nur noch an Fragmente erinnern können. Die fragmentarische Erinnerung spricht dafür, dass ein Trauma stattgefunden hat, weil die normale Gedächtnisfunktion, die mit dem Hippocampus im Gehirn verknüpft ist, unter extremem Stress nicht mehr funktioniert.
Was für Traumata gibt es ?
Man unterscheidet zwischen
- Man-Made-Traumata: Traumata, die Menschen Menschen zufügen
- individuelle, externe Traumata: z.B. Naturkatastrophen, Unfälle, schwere Erkrankungen, Schicksalsschläge
- kollektive Traumata: z.B. Krieg
Mögliche Traumata:
(nach Reddemann, Dehner-Rau: Trauma- Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen)
- Gewalt
- sexualisierte Gewalt
- Missbrauch - körperlich, emotional, geistig - auch in einer Sekte, in Therapie
- Vernachlässigung in der Kindheit - körperlich, emotional, psychisch
- Naturkatastrophen
- Krieg
- Folter
- Vertreibung
- Traumata durch medizinische (auch notwendige) Eingriffe
- traumatisches Geburtserleben
- Unfälle
- Verlust einer nahen Bezugsperson, insbesondere unerwartet und im Kindesalter, vor allem der Verlust der Eltern im Kindesalter und der Verlust eines Kindes
- Miterleben von Gewalt und sexualisierter Gewalt als Zeuge
- Miterleben anderer traumatischer Ereignisse, z.B. ein krebskrankes Kind haben
- Konfrontation mit Traumafolgen als Helfer (Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzte)
(sog. sekundäre Traumatisierung)
- Zusammenleben als Kind mit traumatisierten Eltern
- auch sekundäre Traumatisierung bzw. 'Second-Generation-Phänomen'
Ein einmaliges traumatisches Erlebnis im Erwachsenenalter kann in der Regel besser verarbeitet werden als wiederholte, über Jahre dauernde Traumata im Kindesalter.
Ein durch äußere Faktoren ausgelöstes Trauma kann meist besser verkraftet werden als ein durch Menschen verursachtes traumatisches Ereignis.
Je enger die Beziehung zur verursachenden Person ist, desto schwerer sind im Allgemeinen die Folgen. Je mehr unterstützende Faktoren vorhanden sind, desto besser gelingt der Umgang mit schweren Belastungen.
Fragmentierte Erinnerung - das Traumagedächtnis
Das Traumagedächtnis funktioniert anders als das autobiographische Gedächtnis. Körperwahrnehmungen und Sinneseindrücke wie Gerüche oder Stimmen werden zersplittert im Traumagedächtnis abgespeichert.
Diese fragmentierten Erinnerungen sind triggerbar, das heißt, beispielsweise kann ein bestimmter Geruch an eine traumatische Erfahrung erinnern - in dem Moment des Wahrnehmens des Geruches werden Betroffene dann sehr plötzlich und sehr heftig von traumatischen Erinnerungen überflutet, verbunden mit Gefühlen von Panik, Ohnmacht und Verzweiflung (sog. Flashbacks).
Die Folgen des Schreckens
Ein nicht verarbeitetes Trauma kann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen, die von Angststörungen, Depressionen, dissoziative Störungen, Suchterkrankungen u.a. begleitet oder verdeckt werden kann.
Typisch für eine posttraumatischen Belastungsstörung sind sich aufdrängende, belastende Erinnerungen an das Trauma (Intrusionen, Flashbacks, Alpträume), Vermeidungssymptome (alles, was an das Trauma erinnern könnte, wird vermieden) sowie vegetative Übererregtheit (erhöhte Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen u.a.).
Die top-down-Regulation
Traumatherapie überführt die zersplitterten Traumaerinnerungen ins biographische Gedächtnis, so dass sie verarbeitet werden können. Es geht um die Synthese von fragmentierten Erinnerungsspuren, so dass das Erlebte zusammenfassend erinnert und berichtet werden kann.
Um das emotionale Gehirn nach einem Trauma wieder in einen funktionsfähigen Zustand zu versetzen, d.h. zu lernen besser mit Emotionen umzugehen und weniger triggerbar zu sein, können wir die sog. Top-down-Regulation nutzen. Bessel van der Kolk (Verkörperter Schrecken, 2015) verwendet diese Bezeichnung für die Stärkung der Fähigkeit des Präfrontalkortex, also des sog. Wachturms im vorderen Gehirn, Körperempfindungen zu beobachten und Abstand zu den Dingen behalten.
Taijiquan als Ressource
Van Kolk führt hier zum Beispiel Yoga oder Achtsamkeitsmeditation auf. Auch das Üben von Taiji und Qigong sind Möglichkeiten, die Top-Down-Regulation anzuwenden und den Körper aus einem anhaltenden Flucht-Kampf- oder Erstarrungsmodus herauszuführen.
Bei der sog. Bottom-up-Regulation hingegen wird das autonome Nervensystem modifiziert, über Atmung, Bewegung und Berührung.
Ich unterrichte seit 2012 Taijiquan für traumatisierte Frauen. Es hat sich gezeigt, dass Taijiquan begleitend zur Traumatherapie viele positive Effekte hat und den therapeutischen Prozess unterstützt. So kann der eigene Körper, der oft Ort der Traumatisierung war, wieder auf eine gute Weise gespürt und Grenzen dürfen neu und behutsam erfahren werden. Taijiquan kann zur inneren Aufrichtung beitragen und das Selbstbewusstsein und damit auch das Selbstwertgefühl stärken.
Traumata verursachen oft eine dauerhaft extrem hohe Anspannung in den Muskeln. Taijiquan hilft zu entspannen und Schmerzzustände zu verringern. Taijiquan bedeutet, achtsam den eigenen Körper wahrzunehmen und unterstützt dabei, wieder den eigenen Körper zu bewohnen und ganz im Hier und Jetzt zu sein. Für die Zeit des Übens können belastende Erinnerungen verschwinden und der Augenblick kann gelebt werden. Auf diese Weise knüpft das Üben des Taijiquan an die Verwendung von Achtsamkeitübungen in der modernen Traumatherapie an.
Der Traumaforscher und Traumatherapeut Bessel van der Kolk spricht darüber hinaus davon, wie kollektive Bewegung und ein gemeinschaftlicher Rhythmus unser Leben in einen umfassenderen Kontext stellen und es mit einem Sinn verbinden, der über das individuelle Schicksal hinausweist. (Verkörperter Schrecken, 2015).
Literatur:
Bessel van der Kolk: Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. Probst Verlag, 2015.