Ohnmacht ist ein Gefühl, das die meisten Menschen versuchen zu vermeiden. Dieses verstörende Gefühl von Ausgeliefertsein, von Nichts-Mehr-Tun-Können greift uns in unserem Innersten an. Sie ist das Kerngefühl von traumatischen Erfahrungen. Wir werden, wenn wir uns nicht wehren oder nichts mehr tun können, gezwungen etwas auszuhalten, irgendwie. Oft verlassen Menschen dann ihren Körper, Seele und Geist ziehen sich zurück, fliehen vor dem Unerträglichen. Bei jeder Form von physischer und auch sexueller Gewalt wird der Körper zum Schlachtfeld, zum Ort, wo Machtgelüste anderer ausgetragen werden.
Überlebende von Gewalt und Missbrauch tragen häufig jahrzehntelang dieses Ohnmachtsgefühl in sich und damit auch die Angst davor, noch einmal so ohnmächtig zu werden, dass man zum Zuschauer davon wird, was mit einem selbst geschieht. Es kann relativ schnell getriggert werden, wenn sie Menschen begegnen, die sehr dominant auftreten, die versuchen über sie zu bestimmen oder etwas zu tun, was sie nicht wollen. Und Traumaopfer haben meistens zerstörte Grenzen, die sie erst mühsam wieder aufzubauen lernen müssen. Sie können dann nicht Nein sagen oder sich abgrenzen, wenn sich in irgendeiner Form dem Trauma ähnelnde Situationen wiederholen, da sie reflexartig erstarren, dissoziieren, nicht mehr sprechen oder handeln können. Das mag für manche, die sich mit Traumafolgestörungen nicht auskennen, befremdlich anmuten – vielleicht sagen manche sogar etwas wie, sie oder er hätte sich doch jetzt wehren können, sie oder er ist doch erwachsen. So einfach ist das leider nicht. Sobald ein Trauma getriggert wird, wird u.a. durch massive Stresshormonaus-schüttung der Präfrontalkortex im Gehirn deaktiviert, was es unmöglich macht, das Ganze zu analysieren, zu reflektieren und damit auf Abstand zu bringen. Das limbische System, das für Gefühle zuständig ist, fährt hingegen auf Hochtouren, ebenso ist das Stammhirn mit seinen uralten Überlebensinstinkten aktiviert. Dann können wir nur noch fliehen, kämpfen oder erstarren. Überlebende schwerster Traumata zeigen dann fast immer nur noch die Variante Erstarrung bzw. Dissoziation.
Es macht ohnmächtig, in der endlosen Traumaschleife mit Flashbacks, Intrusionen, dauernder Übererregung, chronischen Schmerzzuständen gefangen zu sein, einschließlich der ihr folgenden Symptome wie Angstzustände, Panikattacken, Depressionen, Essstörungen usw., die dann wiederum nicht selten durch Süchte irgendwie betäubt werden sollen.
Die Sucht, die als Ausweg gemeint ist, schafft neue Ohnmacht, wenn man erst einmal im Teufelskreislauf der Abhängigkeit, seien es stoffgebundene Süchte oder Verhaltenssüchte, gefangen ist.
Das macht die Behandlung von Traumata so schwer, da man als Therapeut zunächst mit der äußersten Schale konfrontiert wird, wie etwa eines Suchtverhaltens. Dieses in den Griff zu bekommen, kann bereits Jahre dauern. Oft kommt es zu Rückfällen.
Wenn dies irgendwann gelungen sein sollte, zeigen sich plötzlich Panikattacken, unerträgliche Angstzustände, dissoziative Zustände oder schwere Depressionen, mit denen man dann umgehen muss, was wiederum einen langen therapeutischen Weg bedeuten kann. An dieser Stelle nicht wieder in altes Suchtverhalten zu fallen, ist für Betroffene schwer. Schaffen sie es, sich aus Angst, Panik, Dissoziation und Depression herauszuarbeiten, was wiederum viele Jahre dauern kann, dann ist es nicht selten, dass an dieser Stelle wieder traumatische Erinnerungen einsetzen, dass Flashbacks etc. auftauchen, all jenes, was vielleicht mit einer Sucht überdeckt werden sollte und worauf Angststörungen, Depressionen oder Dissoziationen wie mächtige Wächter hockten, um das Ganze irgendwie aushalten zu können.
Wenn man dieses komplexe Geschehen betrachtet, dann ist es vielleicht kein Wunder, dass sich nicht nur die Betroffenen immer wieder ohnmächtig fühlen, sondern auch behandelnde Therapeuten.
Aufgrund der Komplexität der Erkrankung und vielleicht aufgrund von scheinbar zu wenig sichtbarem Fortschritt können Therapeuten in die Falle ihrer eigenen Ohnmacht geraten, die sie vielleicht die Therapie beenden lässt oder zumindest für Frustration und das Gefühl der Sinnlosigkeit der Therapie sorgt, was sich natürlich auf den Klienten überträgt. Jeder professionell arbeitende Therapeut hat bestenfalls gelernt, mit der eigenen Ohnmacht umzugehen, diese nicht am Klienten oder Patienten auszuagieren. Denn für Traumapatienten ist eines am Schlimmsten: Wenn ihnen dann in der Therapie, von der sie sich mehr Stabilität, Begleitung auf einem sehr schwierigen Weg und Ermutigung erhoffen, die Ohnmacht des Therapeuten entgegenschlägt. Wenn sie ausgesprochen oder nicht ausgesprochen dem begegnen, dass sie eigentlich ein hoffnungsloser Fall sind.
Für Therapeuten ist es eine der größten Herausforderungen, der eigenen empfundenen Ohnmacht standzuhalten. Sie kann sich abmildern, wenn man sich nicht in die Vorstellung verrennt, alle Symptome des Klienten auflösen zu müssen, also sich als Problemlöser sieht, sondern wenn man versteht, dass man vor allem Begleiter ist – Begleiter auf diesem langen, sehr anstrengenden Weg, der einfach da ist, auch wenn es ausweglos erscheint, auch wenn man selber manchmal nicht mehr weiter weiß. Dieses ‚einfach’ da sein, da bleiben, in allem, bewegt oft mehr, als es irgendwelche Lösungsversuche könnten.
Denn dies ist eine zutiefst heilende Erfahrung für traumatisierte Menschen: dass sie Hilfe bekommen. Schlimme Erfahrungen sind dann besonders traumatisch, wenn von niemandem Hilfe kommt, wenn Menschen komplett allein sind mit einer überwältigenden, existentiellen Erfahrung, sei es als Kind oder Erwachsener.
Man kennt dies auch aus dem Bereich der Jugendgewalt und Jugendkriminalität – die Begleiter der jungen Menschen wie Streetworker oder Sozialarbeiter sind vor allem aufgerufen, an deren Seite zu bleiben. Es geht nicht darum zu vermeiden, dass ein Jugendlicher in den Knast geht, sondern es geht darum, ihn auch durch diese Phase hindurchzubegleiten, eben da zu sein und zu bleiben.
Daher ist ein Therapeut herausgefordert, die eigene Ohnmacht anzunehmen, sie nicht zu bekämpfen, sie wegzudrücken oder gar am Klienten auszuagieren, sondern mit ihr zu sein als Teil der Begegnung mit einem Leid, das uns als Menschen oft nur ohnmächtig machen kann, sei es als Betroffener oder Begleiter. So kann ein Therapeut, der seine eigene Ohnmacht annimmt, auch den Klienten dazu einladen zu lernen, anders mit der Ohnmacht umzugehen, sie zu akzeptieren als Teil der traumatischen Erfahrung und zu üben, ihr nach und nach etwas mehr Handlungsfähigkeit entgegenzusetzen.
Wenn ein Therapeut eigene traumatische Erfahrungen nicht verarbeitet und integriert hat, dann kann er durch Erlebnisse der Klienten natürlich beliebig getriggert werden, was zu unguten Situationen führt. Die eigene Ohnmacht muss bearbeitet sein, bevor man Menschen helfen kann, ihre Ohnmacht auszuhalten.Den Umgang mit Ohnmacht zu lernen ist ein wesentlicher Teil der Traumatherapie, den wir nicht umgehen können. Nur dann können traumatisierte Menschen irgendwann den endlosen Traumasog verlassen. Nur dann werden Opfer nicht irgendwann zu Tätern, was die destruktivste Variante ist die eigene Ohnmacht abzuwenden.
Und abgesehen vom therapeutischen Setting kennen wir alle Situationen der Ohnmacht aus unserem täglichen Leben. Wenn uns nahestehende Menschen oder wir selbst schwer erkranken oder einen schweren Unfall haben, wir mit der Vergänglichkeit des Lebens konfrontiert werden, dann kann dies Ohnmacht auslösen. Es ist nicht einfach, das Leid nahestehender Menschen mitanzusehen, sei es in Form einer schweren Krebserkrankung oder einer schweren psychischen Erkrankung. Es braucht die Bereitschaft ‚Ja’ zu sagen, auch wenn man scheinbar nichts tun kann.
Die Ohnmacht kann ein Abgrund sein, aber in ihr kann auch der Schlüssel dazu liegen, Menschlichkeit zu üben. Wende dich nicht ab, heißt es im Buddhistischen. Es ist die Aufforderung, das Leid anzuerkennen, es nicht zu vermeiden, sondern ihm mit Mitgefühl zu begegnen.
Neben der individuellen Ohnmacht gibt es zudem jene kollektive Ohnmacht, die unsere eigenen Ohnmachtsgefühle verstärken kann. Gerade in Krisenzeiten greift dieses Gefühl um sich, das war in der Coronakrise so und dies ist jetzt angesichts zahlloser Kriege auch so. Hinzukommen jene Schreckensszenarien eines unser Leben auslöschenden Klimawandels, die ebenso vor allem Ohnmacht auslösen, da die Möglichkeit zu handeln hier für den einzelnen sehr begrenzt ist.
Eine Gesellschaft, in der so viel Ohnmacht ist, ist zwangsläufig eine wütende Gesellschaft. Die Häufung von Gewalthandlungen, von denen täglich berichtet wird, seien es Messerstechereien, Amokläufe, die Verwendung von Autos und LKWs als Waffen etc., hat auch ihren Grund darin, dass die Ohnmacht des einzelnen sich ein Ventil sucht.
Darum ist es unerlässlich, dass jeder einzelne sich bewusst der eigenen Ohnmacht, den eigenen Ohnmachtserfahrungen zuwendet. Diese Arbeit mit sich selbst ist immer auch Friedensarbeit für die Welt. Nur wenn wir den Krieg in uns selbst beenden, haben wir die Möglichkeit Frieden in der Welt zu haben.